Das „lange“ 19. Jahrhundert ist eine Zeit der romantischen Verzauberung, aber auch der mechanischen Beschleunigung des Lebens, der Nationenbildung sowie der Industrialisierung. Es ist auch eine Zeit der Verwissenschaftlichung von Geschichte, Kunst und Natur sowie der Etablierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Es ist eine Zeit des permanenten Wandels in der Wahrnehmung einer zunehmend global erfahrenen Welt. In dieser Zeit ändert sich alles: die Themen und Werkformen der Kunst, die Mittel und Verfahren der Bilderzeugung, die ästhetischen Kategorien, die Rezeption durch den Betrachter und das Ich-Bewusstsein der Künstler.

Früher, deutlicher und komplexer als in anderen Kunstformen wird dieser Wandel am Leitmedium der Zeichnung sichtbar. Sie veranschaulicht die kreativen Prozesse unmittelbar, sie erlaubt den direkten Blick in künstlerische Konzepte. Sie experimentiert mit neuen Inhalten und Bildordnungen, sie spielt mit der Schönheit des Fragments wie des Atmosphärischen. Sie nimmt sich die Freiheit, ihre Gegenstände konkret zu definieren, vage anzudeuten oder vollständig aufzulösen. Sie dokumentiert wie nie zuvor die dingliche und soziale Wirklichkeit. Und sie reflektiert ihr eigenes Potential im Gebrauch der Werkzeuge, Materialien und Techniken.

Die Ausstellung des Kupferstichkabinetts beleuchtet anhand von etwa 130 Werken aus der eigenen Sammlung die wesentlichen Aspekte des Aufbruchs der klassischen europäischen Kunsttradition hin zur Moderne. Über die Mittel des Vergleichs und des Kontrasts werden gleichermaßen berühmte Ikonen wie noch nie gezeigte Meisterwerke des 19. Jahrhunderts in einen Dialog gesetzt: Pinselzeichnungen (Sepien und Aquarelle) von Caspar David Friedrich, Carl Blechen, Schnorr von Carolsfeld u. a. treffen auf Strichzeichnungen („Federstücke“) von Ferdinand Olivier, Franz Theobald Horny, Karl Friedrich Schinkel oder Wilhelm Leibl. Adolph Menzels hochvirtuose Gemälde auf Papier für das „Kinderalbum“ bilden einen Kontrast zu seinen monochrom verwischten Studienköpfen der späten Jahre unter völliger Auflösung der Linie. Der Blick weitet sich mit Eduard von Hildebrandts „Reise um die Erde“, einem heute vergessenen Meisterzyklus der ästhetischen Erforschung des Globus im Geiste Humboldts und im Medium des mobilen Aquarells. Und schließlich ist am Beispiel von herausragenden Werken Vincent van Goghs, Giovanni Segantinis oder Odilon Redons nach internationalen Entwicklungen der Zeichnung als autonomer Kunstform zu fragen.

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