Farbensturm und Erdpoesie – Katharina Grosse in den Deichtorhallen
Ein Wunder ist selten still. Es tost, es greift um sich, es verlangt nach Raum. Katharina Grosse nennt ihr jüngstes Werk schlicht Wunderbild, und doch wuchtet sich unter diesem Titel eine Installation von überwältigender Präsenz in die Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen Hamburg. 3.000 Quadratmeter verwandelt die Malerin in eine sinnenberauschende Symphonie aus Farbe, Klang und Form – ein Gesamtkunstwerk, das sich wie eine flirrende Haut über Malerei, Skulptur und Architektur legt.
Mehr als 60 Meter lang zieht sich dieses monumentale Gewebe aus Gemälden auf herabhängenden Stoffbahnen durch den Raum – ein visuelles Crescendo, das den Blick fesselt und den Körper mitnimmt. Einst für den Prager Messepalast der Nationalgalerie konzipiert, hat Grosse die Installation in Hamburg nicht nur räumlich neu gedacht, sondern sie mit einer eigens komponierten Klanglandschaft von Stefan Schneider klanglich vertieft. Das Ergebnis: ein immersiver Farbrausch, der den Raum zum Pulsieren bringt.
Doch Wunderbild ist mehr als ein Spektakel – es markiert eine Zäsur. Zum ersten Mal greift Grosse in dieser Größenordnung zur Schablone. Die so entstehenden Leerstellen – ausgesparte Flächen, wie Fenster in eine andere Welt – verleihen der Malerei eine neue Tiefe. Sie öffnen imaginäre Räume, verschieben Perspektiven und verwandeln das Werk in eine begehbare Gedankenarchitektur. Es ist ein Dialog aus Licht und Schatten, aus Präsenz und Abwesenheit, der das Auge in Bewegung versetzt.
In einem Gespräch offenbart Grosse, dass ihre Lust am Übermalen bereits in der Kindheit wurzelt: „Ich musste morgens, bevor ich aufstand, mit einem unsichtbaren Pinsel alle Schatten wegmalen.“ Eine intime Erinnerung, die sich wie ein poetischer Schlüssel zu ihrem Schaffen liest – und das Bedürfnis offenbart, die Welt nicht nur zu betrachten, sondern sie aktiv zu gestalten, zu überformen, zu durchdringen.
Der Erdraum – Malerei unter den Füßen
Während das Wunderbild von oben herab wirkt wie ein schwebendes Farbband, öffnet sich im hinteren Teil der Halle ein Kontrast von elementarer Wucht: der Erdraum. Hier wird der Boden zur Leinwand, Hügel aus Erde zur Skulptur. Grosse verwandelt den Raum in eine begehbare Landschaft, ein topografisches Gemälde, das unter den Füßen lebendig wird. Der schmale Pfad, der sich durch das Werk windet, zwingt die Betrachtenden zur körperlichen Auseinandersetzung – kein distanzierter Blick von außen, sondern ein tastender, sich einlassender Weg durch ein Werk, das zugleich monumental und intim ist.
Atelierblicke und Archivschätze
Ergänzt wird die Ausstellung durch fünf monumentale Studio Paintings – malerische Statements von bis zu neun Metern Breite, entstanden zwischen 2005 und 2024. Zum ersten Mal zeigt Grosse auch ihr Archiv: Skizzenbücher, Zeichnungen, Spuren der Idee. Ein eigens für die Schau produzierter Dokumentarfilm von Claudia Müller führt tief hinein in das Atelier der Künstlerin, zeigt das Werden der Bilder, das Ringen mit Fläche und Farbe, die körperliche Hingabe an das Material.
Katharina Grosse – eine Malerin der Grenzüberschreitungen
Seit über einem Vierteljahrhundert bespielt Katharina Grosse die internationale Kunstszene mit Werken, die sich der Kategorisierung entziehen. Ihre Malerei ist kein Objekt, sondern ein Ereignis – eine farbliche Inbesitznahme von Raum und Zeit, eine Einladung zur Erfahrung. Ihre Arbeiten hängen in Institutionen wie dem MoMA PS1, dem Centre Pompidou-Metz, dem Museum of Fine Arts Boston – doch es ist die unmittelbare Wirkung ihrer Installationen, die nachdrücklich im Gedächtnis bleibt.
Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen, bringt es auf den Punkt: „Das Wunderbild ist Katharina Grosses größtes transportables Gemälde – ein Ereignis, das Besucherinnen jeden Alters in seinen Bann zieht.“* Und tatsächlich: Wer einmal unter den Bahnen des Wunderbildes stand, wer durch den Erdraum gegangen ist, dem wird Farbe nie wieder einfach nur Farbe sein. Sie ist Materie, Gedanke, Bewegung. Und manchmal: ein Wunder.
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