Kemang Wa Lehulere zählt zu den bedeutendsten Vertretern einer jungen Generation südafrikanischer Künstler, die grenzüberschreitend in den unterschiedlichsten Genres und Medien arbeiten, um neue Perspektiven und Erzählweisen, aber auch Formen des politischen Kommentars zu entwickeln. In seinem Werk, das sich aus der Malerei, über Theater, Performance und Aktionen hin zu einer installativen Praxis erweitert hat, geht es zunächst um die verdrängte Geschichte seines Heimatlandes Südafrika. Verschüttete Erinnerungen werden geborgen und bringen in Wa Lehuleres Kunst fragile Schönheit und Poesie hervor. In seinen Arbeiten rekonstruiert er das, was verloren ging oder zerstört wurde, und macht damit zugleich die Zerstörung dieses sichtbar. So ist das wiederkehrende Motiv des Vogels in dieser Ausstellung ein vielschichtiges Symbol für die Freiheit, die ersehnt, erkämpft, unterdrückt oder deren Stimme zum Verstummen gebracht wird.

Den Auftakt zu seinem Ausstellungsprojekt „Bird Song“ bildet tatsächlich die symbolische Befreiung eines Vogels. Wa Lehuleres Fotografie zeigt eine archäologisch anmutende Situation. Aus einem rechteckigen Feld, das fein säuberlich aus dem rötlichen Putz gemeißelt wurde, lugt das Segment eines Wandgemäldes hervor, auf dem ein bunter Vogel abgebildet ist. Gemalt hat ihn Gladys Mgudlandlu (1917-1979), die ihr Haus in Gugulethu, einer Township von Kapstadt, mit Wandgemälden schmückte. Die Autodidaktin war Anfang der 1960er-Jahre eine der ersten schwarzen Künstlerinnen, die je in Südafrika in einer Galerie ausstellte. Mgudlandlu malte das, was sie liebte: Landschaften und immer wieder Vögel, weshalb sie auch „Bird Lady“ genannt wurde. Bereits 1963 geriet sie jedoch deshalb in die Kritik: die Schriftstellerin Bessie Head schmähte ihr Werk als eskapistisch und warf ihr vor, sie würde die Realität der Apartheid ausblenden und gefällige, folkloristische Bilder für Weiße malen. Nach ihrem Tod geriet Mgudlandlu weitgehend in Vergessenheit.

Fast 50 Jahre nach der Entstehung ihres Wandgemäldes hat Kemang Wa Lehulere, der „Künstler des Jahres“ 2017 der Deutschen Bank, den Vogel sinnbildlich befreit. 1984 geboren, wuchs er ebenfalls in Gugulethu auf. Durch einen Zufall fand er heraus, dass Mgudlandlu einst in der Nachbarschaft lebte. Seine Tante hatte das Haus der Malerin als kleines Mädchen besucht und konnte sich noch an das Wandgemälde erinnern. Gemeinsam begaben sie sich auf eine Spurensuche, die auch die Ausstellung „Bird Song“ inspiriert hat. So haben Wa Lehuleres Recherchen zu einer neuen Rezeption von Mgudlandlus Schaffen geführt. Dennoch geht es ihm um weit mehr als die Rehabilitierung oder Wiederentdeckung einer Künstlerin.

Wa Lehuleres Werk ist stark biografisch geprägt: von seiner Kindheit und Jugend in Gugulethu, von der Arbeit mit dem Künstlerkollektiv Gugulective, von Büchern, Musik, Reisen. Dabei widmet er sich den Mechanismen der Unterdrückung oder der kollektiven Konditionierung, die sich nicht nur in das Denken, sondern auch körperlich einschreiben. So besteht die Installation im ersten Teil des Ausstellungsraumes „My Apologies to Time“ (2017) aus alten Schultischen. Diese wurden von Wa Lehulere umgebaut: Die Tischplatten wurden zu Vogelhäusern und die ehemaligen Tischbeine zu einer Stahlrohrkonstruktion, die alles miteinander verbindet. Vogelhäuser sind beides – geschützte Brutstätten, aber auch Instrumente der Domestizierung. Die verlassenen Häuschen in seiner Installation befinden sich in verschiedenen Aggregatzuständen – offen, verschlossen, reduziert auf eine rudimentäre Form. Der einzige Vogel ist ausgestopft. Schulen können Brutstätten des Denkens sein, aber auch ideologisch geprägte Instrumente der Kontrolle und Konditionierung. Immer wieder tauchen in Wa Lehuleres Installationen Schulmöbel auf, die er zu Strukturen umbaut, die von Wissensvermittlung, Macht und Ohnmacht zeugen.

In der Ausstellung korrespondieren Gladys Mgudlandlus Papierarbeiten mit Wa Lehuleres Werken – wie ein Zwiegespräch der Vergangenheit mit der Gegenwart Südafrikas. Mgudlandlus Blätter sind oft von beiden Seiten bemalt, mit Hügellandschaften, fantastischen Vögeln, Blüten, Blumen und fast abstrakten Ornamenten. Während der Apartheid war es ein Akt des Widerstands, wenn eine schwarze Frau einen Vogel oder einen Baum malte. Allein das galt schon als politische Handlung. Wenn man genau hinschaut, könnte es bei Gladys Mgudlandlus Vogel- und Landschaftsbildern nicht nur um Freiheit, sondern auch um die Vertreibung der Schwarzen von ihrem Land gehen.Dies behandelt die Videoarbeit „Homeless Song 5“ (2017), basierend auf der gemeinsamen Recherche von Kemang Wa Lehulere und der Architektin Ilze Wolff. Wie auch in der gemeinsam für diesen Anlass realisierten Publikation „Gladiolus“, die auch Bestandteil des Katalogs zur Ausstellung ist, gehen sie von der These aus, dass es sich bei den Landschaften von Mgudlandlu um Abbildungen der felsigen Hügel und Hütten von Luyolo handeln könnte. Die schwarzen Bewohner dieser Township wurden in den 1960er Jahren nach Gugulethu zwangsumgesiedelt, nachdem ihre Heimat zum Wohngebiet für Weiße erklärt worden war.

Krücken und Prothesen sind in Wa Lehuleres Werk omnipräsent. Immer geht es dabei um Verluste von etwas Authentischem, um Verletzungen und um die Versuche, diese zu ignorieren oder zu verschweigen. So auch in seiner zweiten großen, ebenfalls aus alten Schulpulten gefertigten Installation „Broken Wing“ (2016): In einer Flügel-Formation hängen krückenartige Gebilde von der Decke. Zwischen die Krücken sind Gebisse gespannt, die nach den Zahnabdrücken des Künstlers gefertigt wurden. Diese Gebisse pressen sich wie Schraubzwingen in Bibeln in der Sprache des Xhosa-Stammes. Hiermit reagiert Wa Lehulere auf die ehemals kolonialen Verhältnisse. Desmond Tutu soll über die weißen Siedler gesagt haben: „Als die Missionare nach Afrika kamen, hatten sie die Bibel und wir das Land. Sie sagten: ‚Lasst uns beten. Wir schlossen unsere Augen. Als wir sie wieder öffneten, hatten wir die Bibel und sie das Land.“ Wa Lehulere verarbeitet die historische Missionierung und Landenteignung wie den biblischen Sündenfall des Menschen. Die Krücke verweist auf den Fall. In der Flügelform klingt wieder das Motiv des Vogels, aber auch des vom Himmel stürzenden Ikarus nach.

Eine in die hintere Stirnwand gemeißelte Arbeit mit Handzeichen englischer Gebärdensprache bildet das Pendant zu der Freilegung von Gladys Mgudlandlus Wandgemälde. Hier geht es nicht um das Abtragen von alten Schichten, sondern die Einschreibung in die Geschichte der Institution. Wie auf einer Baustelle lässt Wa Lehulere die Putzreste, die bei dem Herausmeißeln des Bildes anfallen, auf dem Boden liegen, um den Blick auf das Provisorische und Prozesshafte in der Kulturproduktion zu lenken. Dieses Werk wird nach der Ausstellung wieder unter Putz verschwinden, überlagert von neuen Schichten von Farbe, Zeit und Bedeutung. Eine künstlerische Rekonstruktion von beinahe Vergessenem sind die Kreidezeichnungen, auf denen Wa Lehuleres Tante in seinem Auftrag ihre Kindheitserinnerungen an die Gemälde von Gladys Mgudlandlu skizzierte. Die Schiefertafeln wurden dann vom Künstler gestisch überarbeitet, Teile verwischt oder durchstrichen.

„Bird Song“, der Titel der Ausstellung, ist einem Jazzklassiker entlehnt, der für Miriam Makeba geschrieben wurde. Jazz ist ein wesentlicher Bestandteil von Wa Lehuleres Werk und Leben. Als exklusive Edition zur Schau haben er und der Jazzmusiker Mandla Mlangeni eine Platte eingespielt und dabei alle Stücke selbst komponiert. Die aus schwarzem Haar modellierte Notation auf Leinwand sind eine Hommage an Musik, an schwarze Identität, an den Widerstand und den Kampf und um das Ringen um Freiheit und Gleichberechtigung, das historisch auch durch das nicht geglättete Haar im Afro-Look symbolisiert wird

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