Agnès Varda, geboren 1928 in Brüssel, Spielfilmregisseurin, Dokumentaristin, Installationskünstlerin und Filmtheoretikerin, ist eine der großen Künstlerpersönlichkeiten der Filmgeschichte. Ihr Werk umspannt mittlerweile sechs Jahrzehnte. Varda bildete – zusammen mit Jean-Luc Godard, und im Dialog und Widerstreit mit diesem – das intellektuelle Gravitationszentrum der Nouvelle Vague. Die entscheidende Frage ist für sie als Filmemacherin nicht, was Kino ist, sondern was es bedeutet, Kino zu machen – für sie selbst, für andere, und im Zusammenspiel mit anderen. Vardas Kino ist entsprechend offen und erfinderisch, oft autobiografisch und zugleich universell, vielgestaltig und stets changierend zwischen Formen, Formaten und Gattungen. Das Begleitprogramm im Juni widmet sich Filmen über die Metropole Los Angeles, die den Blick auf die gesellschaftliche Situation der USA Ende der 1960er- Jahre öffnen – eine Zeit, in der Agnès Varda in L.A. lebte.
Weitere Informationen: agnes-varda.de
Lecture von Richard Neupert:
„LA POINTE-COURTE : Wie Agnès Varda ihre Karriere als auteur lancierte (und die Nouvelle Vague erfand)“ in englischer Sprache
Als Agnès Vardas erster Spielfilm LA POINTE-COURTE 1955 in die Kinos kam, setzte er ein Zeichen für ein neues, jugendfrisches Kino. Der Film stellte die herrschenden Konventionen der Epoche auf allen Ebenen in Frage. Er lässt die Alltagsrealität der Bewohner eines südfranzösischen Fischerdorfs auf die hochgradig durchstilisierten Auftritte eines jungen Paars aus Paris prallen, das durch die neorealistische Kulisse des Dorfes wandert. Vardas Ausbildung als bildende Künstlerin und Fotografin prägte den eigenständigen visuellen Stil des Films, die gewagten Montage-Strategien lassen ein atemberaubendes, fast abstrakt wirkendes Raum-Zeit-Kontinuum entstehen. Der exzentrische Produktionsmodus, der unverwechselbare Stil Vardas und die sehr persönliche Geschichte des Films legten den Grundstein für den Rest von Vardas Karriere, waren aber auch Vorbild für eine neue, ruhelose Generation von Regisseuren, die wenig später unter dem Label „Nouvelle Vague“ Filmgeschichte schrieb.
Richard Neupert ist Charles H. Wheatley Professor an der University of Georgia. Zu seinen Publikationen zählen The End, A History of the French New Wave Cinema und French Animation History.
LA POINTE-COURTE
Frankreich 1955. R: Agnès Varda
D: Philippe Noiret, Silvia Monfort. 86 Min. DCP. OmeU
LA POINTE-COURTE ist Agnès Vardas erste Regiearbeit, mit der sie gleich zu Beginn ihrer Karriere ein Ausrufezeichen setzte. Sie hatte bis dahin kaum mit Filmen zu tun gehabt: „Ich wusste gar nicht, was Film war. Schon allein deshalb, weil ich nie hinging. Als ich 25 war, hatte ich höchstens 20 Filme gesehen.“ LA POINTE-COURTE erzählt von einer Beziehungskrise: Bei einem Urlaub im Fischerviertel von Sète, dem Herkunftsort des Ehemannes, begegnet seine Pariser Frau einer ihr völlig fremden Lebenswelt. Unter Mitwirkung von Laiendarstellern und nur zwei professionellen Schauspielern schuf Varda ein an den Neorealismus angelehntes Werk, das die Nouvelle Vague prägte.
Aufzeichnung vom 09.Juni 2016 im Kino des Deutschen Filmmuseums.