Adolf Münzer (1870–1953) – Vor dem Spiegel (1907) Das Kunstwerk des Monats März 2016 im Museum Kunstpalast.

Der nackte weibliche Körper zählt von jeher, ganz gleich ob als liegende Venus oder stehender Akt, zu den Topoi künstlerischen Schöpfertums. Er ist nicht nur Ausdruck von Schaulust, sondern auch Zeichen des Begehrens nach Erkenntnis und künstlerischer Inspiration. Der Rückenakt vor dem Spiegel ist dabei eine besonders reizvolle Variante, weil er Unsichtbares weit mehr enthüllt und Verbotenes allansichtiger offenbart, als dies ohne Spiegelbild möglich wäre. Nach gängigem Erzählmuster dient der Spiegel im Bild dazu, den Blick auf die scheinbar verborgene Seite der Frau mit ihren entblößten Brüsten freizugeben und zugleich den Blickkontakt zum Betrachter herzustellen.

Adolf Münzer aber durchkreuzt bewusst die Begehrlichkeiten des Betrachters. Zwar gibt er auch den Blick auf die Seitenansicht des nackten Frauenkörpers frei, lässt aber nicht in die Gesichter der Frauen blicken. Von der Bekleideten zeigt er immerhin ihr Profil, das sich klar vom Fond abhebt. Ihre Gesichtszüge sind jedoch im Spiegel nicht erkennbar, da sie vom Hinterkopf der nackten Frau verdeckt werden. Deren Gesicht wiederum bleibt auch im Spiegel verborgen, lediglich ihr verlorenes Profil lässt erahnen, dass es sich um eine junge hübsche Frau handelt. Damit baut Münzer einen Kontrast zwischen der ‚Gesichtslosigkeit‘ der Frauen und der körperlichen Blöße auf, die er uns in geradezu schutzloser Ehrlichkeit vor Augen führt. Zugleich entsteht der Eindruck einer intensiven Zwiesprache der zwei Frauen mit ihrem Spiegelbild, so als befänden sich nicht zwei, sondern vier Frauen in einem vertrauten Austausch miteinander und als bildeten sie einen Kreis, von dem der Betrachter ausgeschlossen bleibt. Auch der fehlende Blickkontakt zum Betrachter und die Verweigerung der Vorderansicht des Aktes sorgen dafür, dass der voyeuristischen Neugier eine Grenze gesetzt wird. Bei aller Täuschung, Einblick in eine intime Szene nehmen zu können, enttäuscht das Bild zugleich auch den Betrachter.
Vielmehr scheint es hier um einen stummen Dialog zweier Frauen zu gehen, nicht mit ihrem jeweiligen Spiegelbild, sondern nur mit dem der angekleideten. In dem Maße aber wie dieses erzählerische Detail wahrgenommen wird, verliert die weibliche Nacktheit an Bedeutung. Denn nicht die entkleidete Frau prüft sich im Spiegel, um zu sehen, wie man sie sieht, d. h. wie das Urteil des Betrachters ausfällt, sondern sie schaut in den Spiegel, um zu sehen, wie sich die andere Frau wahrnimmt. In dieser Selbstvergessenheit der eigenen Nacktheit liegt die scheinbare Natürlichkeit der Szene begründet. Münzer eröffnet somit ein dialektisches Spiel zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, Sehen und Gesehen-Werden.
Tatsächlich aber wird der Betrachter irregeleitet, denn in Wirklichkeit handelt es sich weder um vier, noch um zwei, sondern nur um eine einzige Frau, die hier in verschiedenen Rollen, mal in schillernder türkisfarbener Seide, mal im ‚Evakostüm‘, mal mit dunklen, mal mit rötlichblonden Haaren dargestellt wird. Vorbereitende Porträtstudien bestätigen diese These.

Münzers Versteckspiel hatte einen konkreten biografischen Hintergrund: Nach zweijährigem Aufenthalt in Paris lernte Münzer 1903 in München Marie Therese Dreeßen, geb. von Vestenhof (1878–1958) kennen. Münzer bat sie zunächst, ihm Porträt zu sitzen. Später wurde sie seine Geliebte und Modell zahlreicher Aktbilder. Um einen Skandal zu vermeiden, durfte das Gesicht der verheirateten Frau nicht erkennbar sein. Als 1907 „Vor dem Spiegel“ und andere Aktbilder in der Galerie Brakl in München ausgestellt wurden, wurde das Geheimnis gelüftet. Es kam zu einem Eklat, in dessen Folge der Ehemann Dr. Dreeßen die Scheidung verlangte. Münzer schildert in seinen Erinnerungen diese Jahre als Wende zum Glück und beruflichen Erfolg: „Wir mußten nach vollzogener Scheidung ein volles Jahr mit unsrer Eheschließung warten, aber gerade dieses Jahr war voll reizvoller Spannung. […] Im Herbst 1908 erschienen in München plötzlich zwei Herren aus Düsseldorf, Prof. Georg Oeder, Maler, und Kunsthändler Schulte mit dem Vorschlag, ob ich nicht als Lehrer der Malklasse an die Düsseldorfer Kunstakademie kommen wolle. Sie kamen im Auftrag des Akademiedirektors Fritz Roeber.“

1909 nahm der Mitbegründer der Künstlergruppe „Scholle“ und Mitarbeiter der Zeitschrift „Jugend“ den Ruf nach Düsseldorf an. Bis 1936 blieb Münzer Professor der Malklasse an der Düsseldorfer Kunstakademie und führte Dekorationen in öffentlichen Gebäuden im Rheinland aus (Plenarsitzungsaal, Düsseldorfer Regierungspräsidium). Schon 1909 wurde „Vor dem Spiegel“ durch den Galerie-Verein auf der Münzer-Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle erworben. Bis in die 1930er-Jahre war das Gemälde in den Städtischen Kunstsammlungen am Ehrenhof (heute Museum Kunstpalast) ausgestellt, fristete aber später ein Depotdasein. Nach ca. 80 Jahren kann das mit einem originalen Goldrahmen versehene Bild, das zu den Hauptwerken des Künstlers gerechnet werden kann, nach einer umfangreichen Restaurierung wieder gezeigt werden.

Dr. Bettina Baumgärtel

Jeden Monat wird ein Werk aus der Sammlung des Museum Kunstpalast von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses und in regelmäßigem Wechsel zwischen den Abteilungen präsentiert. Nicht nur die Kurzführung im Rahmen der KUNSTPAUSE, sondern auch ein wissenschaftlicher Essay eröffnen neue Sichtweisen auf das betreffende Kunstwerk.
Das Essay ist zum Nachlesen auch auf unserer Website www.smkp.de/kunstwerk-des-monats zu finden.

In Zusammenarbeit mit IKS – Institut für Kunstdokumentation und Szenografie
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