Krankheit als Kränkung. Kritische Überlegungen zur Negation von Körper und Naturnotwendigkeit
Vortrag von Uli Krug
Materialismus, der die fundamentale Leiblichkeit seiner Impulse kleinredet, ja vergessen macht, ist keiner: Leiblichkeit, sei es in Form der Stillung der Bedürfnisse, der Vermeidung von Unlust, der Linderung von Schmerz, dem Heilen und Vorbeugen von Krankheit oder auch der Kontrolle des Impulses, ist es, die aller Gesellschaftlichkeit prinzipiell zugrunde liegt und die so zur Ausbildung des Geistes erst nötigt:
„Als Instrument der Selbsterhaltung, das der Realitätsprüfung, ist ratio überhaupt entstanden,“ notiert Adorno in „Theorie und Praxis“ prägnant.
Diese ratio ist somit ein Grenzfall der Naturgeschichte, die Ausbildung eines reflexiven Organs, das zwar Körper ist, sich aber ihm auch enthebt; eines, das meint, so souverän zu sein, einen Körper zu haben, ihn dienstbar zu machen zu mittlerweile jedem heteronomen Zweck, ohne mehr zuzulassen, dass es gerade die Schwäche, die Müdigkeit, der Schmerz und die Krankheit sind, die quasi als negative Statthalter der Utopie eines wirklich souverän führbaren Lebens fungieren – in dem Sinne, dass sie an die Einheit des Gattungswesen erinnern, die im wesentlichen durch körperliche Not und Notwendigkeit bedingt ist und gerade dadurch Einsicht gebiert , die diese Imperative abmildert und Freiheiten ermöglicht.
Kapitale Verwertung als Selbstzweck negiert diese Grundlage von Gesellschaft, die zugleich aber die ihre bleibt. Sie setzt den Leib und sein Wohl nicht als Zweck, sondern sich selber als Selbstzweck.
Jedes Hindernis erscheint nur als zu überwindende Schranke, was historisch durchaus ein überaus progressives Moment hatte. Der späte Kapitalismus aber hat dieses Moment längst verloren, die Anverwandlung der Leiber an seinen dynamischen Leerlauf treibt er zur Konsequenz.
Der Leib erscheint als bloßes Werkzeug hoher Leistung und rascher Lüste, sein Versagen – und sei es nur der Prozess der Alterung und damit Funktionseinschränkung – und die Erinnerung an seine Anfälligkeit widersprechen diesen Bestimmungen: Sie kränken den Geist, der sich seiner körperlichen Genese nicht mehr bewusst wird oder werden will. Er tendiert dazu, das Gebrechen, die Gefahr, die Infektion kleinzureden, ja zu negieren, indem er Angst und Sorge zu bloßen Einbildungen erklärt (was nicht immer falsch sein muss, aber jede gesundheitliche Gefahr zu leugnen, ist umgekehrt nicht weniger verrückt als der Hypochonder, der jede Schwäche als Krankheit deutet).
So ergibt die merkwürdige Einheit, die sich als „Querdenker“-Bewegung zumindest kurzfristig formiert hat, psychoökonomisch da Sinn, wo jede politische Deutung nicht mehr hinreicht, wenn sie grübelt, was Anarchisten und Kaisertreue zum gemeinsamen Aufmarsch bewegt. Deren Rede von der Freiheit gilt nicht wirklicher Freiheit vom Naturzwang, sondern der Freiheit von Verantwortung für sich und andere, dem Primat persönlicher Obsession über die Reste gesellschaftlicher Kooperation.
Diese wäre vernünftig zu gestalten und nicht schlicht aufzukündigen im Namen dieser Freiheit, die lediglich die Freiheit bedeutet, seinen Müll überall hinzuwerfen, zu rasen oder zu jeder Zeit nach Kräften zu lärmen: schlicht auf nichts und niemand Rücksicht zu nehmen.
Uli Krug, 11.8.1962 München, Studium (M.A.) Soziologie, Neue Geschichte und Philosophie. Essayist und Lektor (u.a. bei „Jungle World“). Regelmäßige VÖ, Buch: Der Wert und das Es. Freiburg 2016.
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