In der kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Phänomen „Rache“ wird die koloniale und archaische Deutung dieser Praxis deutlich: „Rache“ wurde vor allem in frühen ethnologischen Studien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ganze Gesellschaftsdiagnose („Rachegesellschaften“) und Interpretationsfolie für die soziale Organisationsweisen von als „primitiv“, „barbarisch“ und „rückständig“ abgewerteter Gruppen genutzt. Diese würden, so die damalige Argumentationslogik, Rachepraktiken wie „Mord“ oder „Kannibalismus“ als ein kollektives Ordnungs- und Machtinstrument nutzen.

Ethnologen argumentierten hier vor allem mit ethnopsychologischen Ansätzen, um die Lebensweisen und Alltage „barbarischer Naturvölker“ und „indigener Stämme“ und ihr Verhalten zu erklären. Diese würden, so der rassistische Fortschritts- und Modernisierungsgedanke der Zeit, bald jene archaische Praxis verwerfen und sie durch Rechtsformen und –institutionen der westlichen Welt wie beispielsweise Gesetze, Rechtsprechungen oder Gerichte ersetzen.

Noch heute kommt „Rache“ in Diskussionen über „Ehrenmord“, „Selbstjustiz“ oder „Blutrache“ vor. Diese Begriffe werden in medialen Berichterstattungen meist ethnisch und religiös kodiert. Die Veranstaltung möchte diese tradierten kolonialen Narrative aufbrechen und neu diskutieren. Denn auch in „postmodernen“ Gesellschaften ist „Rache“ nicht spurlos verschwunden, sondern entfaltet auch noch gegenwärtig spezifische Möglichkeits- und Handlungsräume für Individuen und Gruppen.

Gäst:innen

PD Dr. Christine Künzel

Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Uni Hamburg; beschäftigt sich vor allem mit dem Topos „Rape und Revenge“ (= sexualisierte Gewalt und Rache) in Literatur und Kultur.

Dr. Fabian Bernhardt

Philosoph am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ an der FU Berlin; hat sich in seiner Dissertation (2018) mit dem Stellenwert der Rache in der modernen Gegenwartskultur auseinandergesetzt.

Dr. Sebastian Schirrmeister

Literaturwissenschaftler; war zuletzt Moritz Stern Postdoctoral Research Fellow für Modern Jewish Studies am Lichtenberg-Kolleg Göttingen und forscht zu Rache(fantasien) in jüdischen Literaturen nach der Shoah.

Susanna Jorek, M.A.

Kultur- und Afrikawissenschaftlerin, Universität Leipzig, Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte in der Museumsarbeit, Postkolonialen Theorie und Cultural Studies.

Moderation: Manuel Bolz, B.A. (Empirische Kulturwissenschaft)

Die Gesprächsrunde möchte folgenden Fragen in den Blick nehmen:

Wo und wie werden koloniale, zivilisatorische und archaische Kodierungen von Rachevorstellungen und -praktiken noch heute sichtbar und spürbar z.B. in Medien, in der Kunst, in Literatur usw.?
Welche produktiven, ordnenden und destruktiven Funktionen könnten Rache zugeschrieben werden?
Welche Gegennarrative können Ausstellungen, Museen und wissenschaftliche Abhandlungen entwickeln?

Ein Projekt von MARKK in Motion im Zwischenraum des MARKK und mit Unterstützung der „Initiative für Ethnologische Sammlungen“ der Kulturstiftung des Bundes.

Die Veranstaltung fand am 30.09.2021 statt.

Weitere Informationen: MARKK

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