15.11.2014 – 06.04.2015

Das Neue Sehen
Überlegungen zur bildlichen Evidenz der Fotografie sind so alt wie die Fotografie selbst. Schon im 19. Jahrhundert stritt man darüber, ob die Fotografie durch die mechanische Wiedergabe der Wirklichkeit imstande sei, das Leben umfassender und gültiger darzustellen als etwa die Malerei. Nicht zuletzt aus der Reaktion auf die empfundenen Unzulänglichkeiten des Fotografischen entstand der sogenannte Piktorialismus, der die Fotografie nach den Regeln der Malerei ausrichtete, um ihr mehr künstlerische Kompetenz zu verleihen. Um 1920 besann sich eine neue Generation internationaler Fotografen wieder auf die spezifischen Eigenschaften der fotografischen Mittel und entwickelte diese zu einer zeitgemäßen Wirklichkeitsaneignung weiter. Das ungebrochene Fortschreiten der Technisierung in der modernen Gesellschaft hatte den Umgang mit der Fotografie verändert: Handliche Rollfilmkameras kamen in großer Stückzahl auf den Markt und ermöglichten auch dem Laien das unkomplizierte Fotografieren. Die zunehmende Verwendung fotografischer Illustrationen in den Massenmedien und in der Werbung erhöhte die Nachfrage nach guten Fotografien und Fotografen. Sie veränderte auch die Sehgewohnheiten des Publikums, wodurch das Neue Sehen zum Ausdruck einer medial geprägten Wahrnehmung der Wirklichkeit wurde. Die Positionen reichten von der exakten Aufzeichnung des Gesehenen in der Porträt- und Industriefotografie über die Wahl neuartiger Ausschnitte und Perspektiven am Bauhaus bis hin zur Fotomontage, zu technischen Experimenten wie Fotogramm und Solarisation sowie zum inszenierten Bild im Surrealismus.

Der apparative Blick
Die Fotografen der Neuen Sachlichkeit wollten die Welt so zeigen, wie sie war. Für Albert Renger-Patzsch war die Fotografie das „zuverlässige Werkzeug“, das die sichtbaren Dinge der Welt, insbesondere die Erzeugnisse moderner Technik, objektiv wiedergab und insofern der subjektiven Wahrnehmung des menschlichen Auges überlegen war. László Moholy-Nagy ging mit seinem berühmten Verdikt, dass »in Zukunft nicht nur der Schrift-, sondern auch der Fotounkundige als Analphabet gelten wird«, noch einen Schritt weiter. Er sprach dem Fotoapparat die entscheidende Funktion zu, die menschliche Wahrnehmung technisch zu erweitern und das moderne Leben der Metropolen, Maschinen und der Massengesellschaft adäquat darzustellen: »Der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw. ergänzen.« Ungewohnte Ansichten und Perspektiven führten zu frappierenden Bildern. Während aus der Vogelperspektive Gebäude und Straßen zu Kompositionen aus Linien und Flächen wurden, konnte eine Aufnahme in schräger Untersicht eine ungeahnte Dynamik erzeugen und die starke Vergrößerung eines Objektes zu geheimnisvollen Verfremdungen führen.

Das Reale und das Surreale
Die Surrealisten schließlich erkannten ausgerechnet im »realistischen« Aufzeichnungsinstrument der Fotografie ein weiteres künstlerisches Mittel der »écriture automatique«, die André Breton auch als »Gedankenfotografie« bezeichnet hatte. Unter der Oberfläche der sichtbaren Dinge sollte das Irrationale, Mystische und Widersprüchliche erkundet werden. Dokumentarisch arbeitende Fotografen wie Eugène Atget und Karl Blossfeldt wurden zu Inspiratoren der Bewegung. Man druckte ihre Arbeiten in den surrealistischen Zeitschriften ab, denn eine Pflanze, fotografisch isoliert und inszeniert, konnte außerhalb ihres botanischen Kontextes allerlei magische Assoziationen auslösen. Während die manipulierten und inszenierten Fotografien gerade von der Wahrhaftigkeit des »Es ist so gewesen« profitierten, was ihre rätselhaften Aussagen nur bekräftigen konnte, ließ sich eines der wichtigsten künstlerischen Mittel des Surrealismus, die kombinatorische Gestaltung, nicht zuletzt in der Fotomontage besonders überzeugend umsetzen, indem heterogene Bildteile neue überraschende Sinnzusammenhänge eingingen. Die Collagen Karel Teiges haben wie Brassaïs Aufnahmen des nächtlichen Paris eine surreale Qualität, die in anderer Form auch die traumnahen Lichtabdrücke der Fotogramme Man Rays in sich tragen. Das Ziel der Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit, wie sie Breton in seinem ersten Manifest des Surrealismus postuliert hatte, strebten sowohl die inszenatorische Fotografie als auch die vielen fototechnischen Experimente mit Mehrfachbelichtungen, Negativabzügen und Solarisation an. Insgesamt konnte es so in der Fotografie des Neuen Sehens zu regelrechten »Kippbildern« kommen, die je nach real-surrealem Fotografenund Betrachterstandpunkt als nüchtern objektive Wiedergabe der sichtbaren Welt oder als imaginär subjektive Wirklichkeitsreflexion gelten können.

Die Ausstellung RealSurreal führt den Besucher durch das Neue Sehen in Deutschland, den Surrealismus in Paris und die Avantgarde in Prag mit Themen wie Porträt, Akt, Objekt, Architektur und Experimentelles. Ausgehend von einem Prolog, in dem beispielhafte Fotografien des 19. Jahrhunderts die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Neuen Sehen zeigen, lässt sich im Kunstmuseum Wolfsburg das Neue Sehen anhand seltener Originalabzüge namhafter Fotografen wörtlich nehmen und die Bandbreite und Vielschichtigkeit der Fotografie zwischen real und surreal neu entdecken. Neben den rund 200 Fotografien machen auch historische Fotobücher und Zeitschriften sowie seltene Künstlerbücher und Beispiele avantgardistischer Umschlaggestaltungen den neuen Blick auf die Welt erlebbar.

Einige berühmte Filmbeispiele von Luis Buñuel, László Moholy-Nagy, Hans Richter u. a., die in einem 45-minütigen Loop permanent in der Ausstellung gezeigt werden, machen auf die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Avantgarde-Fotografie und dem Kino dieser Zeit aufmerksam. Dass die künstlerischen Fragestellungen des Neuen Sehens auch noch heute Relevanz besitzen, wird anhand signifikanter Fotografien und Foto-Installationen von Nobuyoshi Araki, Gilbert & George, Paul Graham, Andreas Gursky, Cindy Sherman, Jeff Wall und James Welling aus der Sammlung des Kunstmuseum Wolfsburg dargestellt.

In Kooperation mit dem Internationalen Filmfest Braunschweig zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg das vierteilige Filmprogramm „Das magische Auge“. Ein großes Sonderprogramm real-surrealer Filme, inspiriert von der Ausstellung RealSurreal, wird zudem im Rahmen des Festivals vorgestellt. Informationen: www.filmfest-braunschweig.de.

Der Katalog zur Ausstellung mit Texten von Antonín Dufek, Björn Egging, Ivo Kranzfelder, Ulrich Pohlmann und Bernd Stiegler erscheint im Wienand Verlag. Erhältlich für 28 € im Museumsshop. Buchhandelsausgabe: ca. 34 €, 256 Seiten.
Mehr unter kunstmuseum-wolfsburg.de

Abonniere unseren Newsletter