Gideon Bachmann, dessen Stimmenarchiv sich seit 2014 am ZKM befindet, führte von 1963 bis 1975 zahlreiche Gespräche mit dem Schriftsteller und Filmemacher Pier Paolo Pasolini. In den unkonventionell geführten Interviews offenbaren sie Pasolinis kritische Gedanken zur poetischen Eigenart des Kinos, zum Umgang mit der Vergangenheit und zur Bedrohung durch einen technokratischen Neokapitalismus. Bachmann sah in Pasolini einen Seismographen der Gesellschaft.
Pier Paolo Pasolini (1922 – 1975) verstand sein Schaffen als ein ästhetisches Engagement für die Gesellschaft, in der er lebte. Seine Gedichte, Romane und Filme thematisieren den gesellschaftlichen Wandel in der Nachkriegszeit und kritisieren die aufkommende Konsumgesellschaft des Neokapitalismus scharf. Pasolini war trotz oder gerade aufgrund seiner beachtlichen Erfolge eine in Italien umstrittene und vielfach angefeindete Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Auch wenn die Beziehung zur Presse belastet war, wusste er, ihre Kanäle für sich und seine Werke zu nutzen. Gezielt nahm er an Fernsehshows teil und gab Interviews, um seine Außenseiterrolle facettenreich darzustellen, und seine Werke kommentieren zu können.
Der Journalist, Fotograf und Filmemacher Gideon Bachmann (1927 – 2016) berichtete seit 1955 im amerikanischen Radio und in internationalen Zeitungen über das Kino und drehte Dokumentarfilme zu Filmemachern wie Jonas Mekas und Federico Fellini. Durch seine charmante Hartnäckigkeit hatte er sich viele Kontakte zu Filmpersönlichkeiten aufgebaut. Er sprach sieben Sprachen fließend und war ein gern gesehener Gast auf den Filmfestivals weltweit. Durch seine Pionierarbeit als Radiomoderator einer Filmsendung gab er sowohl den jungen als auch etablierten Persönlichkeiten des Films eine Stimme. Doch es ginge Bachmann nie allein um die Vermittlung. Er lehnte die Bezeichnung „Interview“ für seine offenen Gesprächsformen ab, denn neben den Antworten interessierte ihn mehr noch die intensive Begegnung mit dem Gegenüber.
Die Begegnungen zwischen Pasolini und Bachmann gründeten anfänglich auf einem gegenseitigen Nutzen: Bachmann reizte die Deutungshoheit über den umstrittenen Künstler Pasolini zu erlangen, Pasolini profitierte von der Reichweite des kosmopolitischen Sprachrohrs Bachmann. Schon bald wurden jedoch Bachmanns fehlende Kenntnisse über die kulturellen Hintergründe Pasolinis offensichtlich, und Pasolini wurde zum Lehrmeister Bachmanns in italienischen, marxistischen und cineastischen Fragen. Im Laufe der zwölfjährigen Bekanntschaft entwickelte sich eine gewisse Vertrautheit, die mehr und mehr in gemeinsamen, pessimistischen Klagen über den Zustand der Welt gipfelte.
Die offenen Gespräche Bachmanns mit Pasolini rufen nach einer kritischen Auseinandersetzung und Kontextualisierung. Der Literaturwissenschaftler Fabien Vitali transkribierte, übersetzte und kommentierte die 13 Gespräche zwischen Pasolini und Bachmann für das Buch »Pasolini – Bachmann. Gespräche 1963 – 1975«, das im April 2022 im Verlag der Galerie der abseitigen Künste zum 100. Geburtstag Pasolinis erscheint.
Gastgeber dieser »The Art of«-Folge: Christian Haardt
Weitere Informationen: https://zkm.de