Thomas Kern (*1965), Mitbegründer der Schweizer Fotoagentur Lookat Photos, hat sich in den 1990er Jahren mit Reportagen einen Namen gemacht, in deren Zentrum die Auswirkungen von Krieg und Konflikten stehen. 1997 reiste er im Auftrag der Kulturzeitschrift du zum ersten Mal nach Haiti.
Seit seiner ersten Reise nach Haiti 1997 kehrt Thomas Kern immer wieder dorthin
zurück, um die wechselhafte Geschichte der ehemaligen «Perle der Antillen» festzuhalten.
Zurückhaltend und zugleich ganz nahe bei den Menschen dokumentiert er in klassischem
Schwarzweiss den Alltag in einem der ärmsten Länder der Welt. Seine Bilder zeigen die
grossen individuellen Anstrengungen und die kleinen Freuden in einem Land, das geprägt ist von Naturkatastrophen, politischer Instabilität und einem schleichenden ökologischen
Desaster. Darüber hinaus erzählen sie von der Geschichte der Sklaverei und vom
vermeintlichen Ausweg in die spirituelle Welt des Vodou.
Seit dieser ersten Begegnung lässt ihn dieses Land in der Karibik nicht mehr los, ein Land, dessen gängiges Bild vor allem durch die Katastrophen-Berichte in amerikanischen Medien geprägt wird. Da Haiti nur etwa eine Flugstunde von Miami entfernt ist, sind politische Unruhen, Ausschreitungen mit brennenden Autoreifen oder die jährlichen Unwetter immer eine Titelstory wert. Die komplexen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe werden dabei oft ausgeblendet.
Im Wissen, dass auch er nur ein Aussenseiter ist, der der Komplexität und der Widersprüchlichkeit des Landes nie ganz gerecht werden kann, reagiert Thomas Kern besonders sensibel auf die gängigen Klischees. Vor allem will er nicht nur Haitis skandalöse Armut in den Vordergrund rücken – im Hintergrund ist sie ohnehin immer präsent. Im Gegenteil, mit bewusst gewählten, einfachsten Mitteln – mit einer Rolleiflex ohne Wechselobjektive und mit analogem Schwarzweissfilm – führt er uns auf eine chaotische Bühne, die voller fremden Erscheinungen ist. In Momentaufnahmen, die
nicht selten surreale Züge annehmen, wird das alltägliche Leben in all seinen Facetten erfahrbar.
Kern fotografiert spontan, doch immer im quadratischen Bildformat, das Stabilität und Ruhe suggeriert, auch wenn innerhalb der Bildes Verwirrung herrscht: verschiedene Bildebenen überlagern sich, Bewegungen sind unscharf, Personen sind angeschnitten oder nur als dunkle Schatten wahrnehmbar. Diese prekäre Balance von Stillstand und explosiver Dynamik zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufnahmen. Dabei mischt sich der Fotograf nicht ins Geschehen ein, er beobachtet nur und lässt sich von seinen eigenen Eindrücken leiten. Trotz dieser scheinbaren Distanz ziehen uns Kerns Fotografien direkt ins reale Geschehen des haitianischen Alltags hinein,
mitten ins Spannungsfeld zwischen Resignation und unbändiger Lebensfreude. Die haitianische Schriftstellerin Yanick Lahens schreibt zu Thomas Kerns Fotografien: «In Haiti muss man alles nehmen: die Schatten und die so schönen Lichter. Sie führen immer aufs Neue zurück zu den Schatten und zum Licht in uns. Die Kreativität hält uns am Leben, sie ist unser Sauerstoff. Wir stellen die Welt auf den Kopf, wie beim Karneval. Durch den Spott, die Schönheit, die Pracht. Manche der Fotografien sagen das auf ihre ganz eigene Art. Wir öffnen unerwartete Klammern und drehen dem Unglück eine lange Nase.»
Dieses Unglück reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück, als sich Haiti seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich erkämpft hatte, die Sklaverei abschaffte und damit zum ersten freien Staat Lateinamerikas geworden war. Seither wurde die Geschichte des Landes aber von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet, und die sich in rascher Folge ablösenden Regierungen und Diktatoren trugen wenig bis nichts dazu bei, das Land zu stabilisieren oder wirtschaftlich weiter zu bringen. Vielmehr nutzten sie ihre Macht zur schamlosen persönlichen Bereicherung. Bis heute ist das politische System der ersten «schwarzen» Republik von Opportunismus, Vetternwirtschaft und Korruption geprägt.
Permanente Krise
Vor Haitis Kolonialisierung durch Spanien und Frankreich war der Inselstaat eine Art tropischer Garten Eden, der zu 90% bewaldet war. Heute sind es weniger als 2%, Tendenz abnehmend, denn das Holz, das zu Holzkohle verarbeitet wird, ist und bleibt einer der wichtigsten Energieträger des Landes. Die fortschreitende Rodung der Wälder führt zu zunehmender Erosion des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens, was die Nahrungsmittelproduktion massiv beeinträchtigt. Dazu kommen regelmässig wiederkehrende Naturkatastrophen wie Trockenheit, Wirbelstürme
und Überschwemmungen.
Auch in der akuten Notsituation nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010, bei dem über 300’000 Menschen ihr Leben verloren und über eine Million obdachlos wurden, erwies sich der Staat als unfähig, angemessen auf die Katastrophe zu reagieren. Er überliess das Krisenmanagement den unzähligen internationalen Organisationen, die ins Land strömten und die dringend benötigte Soforthilfe leisteten. Doch trotz den zusätzlich für den Wiederaufbau versprochenen Milliarden aus dem Ausland, von denen ein grosser Teil nie in Haiti ankam oder dort im Korruptionssumpf versickerten, herrschen heute nach wie vor Nahrungsmittelknappheit und Arbeitslosigkeit. Es fehlt an sauberem Trinkwasser, die Umweltverschmutzung nimmt rapide zu und die Bevölkerung – ausser einer kleinen, wohlhabenden Minderheit – leidet unter bitterer Armut.
Falsche Hoffnungen
Das Land, das einmal zu den reichsten Gebieten des französischen Kolonialreichs gehörte, ist heute völlig von ausländischer Hilfe abhängig. Eine Abhängigkeit, von der sich Haiti nie ganz befreien konnte. Das Land verharrte in einer Art Sklavenmentalität, machte lieber andere für die Misere verantwortlich als selbst das Heft in die Hand zu nehmen. Auch die Religion des Vodou bietet keinen Ausweg aus dieser gleichermassen tragischen wie paradoxen Situation. Der während der Kolonisation von den Sklaven aus Afrika mitgebrachte Götter- und Geisterkult, in dem Opferund Reinigungsrituale eine zentrale Rolle spielen, wird auch heute von einem Grossteil der Bevölkerung parallel zum Katholizismus praktiziert. Vodou bietet den Menschen die Möglichkeit einer Flucht in eine spirituelle Welt, die ihnen – wenigstes für eine gewisse Zeit – Halt gibt, in der sie sich aber auch verlieren können. Es ist vor allem auch eine Flucht, die hilft, die realen Probleme des Lebens auszuhalten – oder für einen Moment zu verdrängen.
Text: Martin Gasser, Kurator
Die Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz vereinigt Über hundert zum Teil grossformatige Bilder, die während der letzten fast zwanzig Jahre entstanden sind. Sie wurden dieses Jahr von Christian Spirig, Zürich, als Inkjet-Prints hergestellt und von der Firma EMSA, Villmergen, auf Alu aufgezogen und gerahmt. Ebenfalls Teil der Ausstellung ist eine Projektion von Porträtaufnahmen mit dem Titel «Rap Créole», die von einem Gedicht von Yanick Lahens begleitet wird (Produktion Thomas Kern, Swissinfo, Januar 2011).
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